In den vergangenen Monaten warf die Corona-Krise die Ukraine aus der Bahn. Zuerst wusste niemand, wie es weitergehen wird. Die Regeln während der Quarantäne verwirrten die Menschen. Immer neue Gerüchte verbreiteten sich in Windeseile. In der Zwischenzeit denken die meisten Menschen nicht mehr so sehr über Corona nach. Nun verbreitet sich die Angst vor einer unüberschaubaren Wirtschaftskrise. Man spürt, dass es zwar noch Sommer ist, doch der nächste Winter kommt bestimmt.

Als die Corona-Krise die Ukraine erreichte, wurden, wie in Deutschland, alle Schulen geschlossen. Wochenlang durften Kinder unter 14 Jahren ihr Grundstück nicht verlassen. Wir konnten sie nur mit unserer „Mobilen Suppenküche“ versorgen. Nachdem die Vorschriften gelockert wurden, sind unsere Mädchen und Jungen natürlich froh, dass sie wieder in unsere „Zufluchtsorte“ und in unsere Kinderhäuser kommen können. Meist kommen sie ausgehungert und freuen sind ganz besonders auf ein leckeres Mittagessen.

Als die Corona-Krise die Ukraine erreichte, versanken die „Vergessenen Dörfer“ in kurzer Zeit in Hoffnungslosigkeit. Monatelang durften keine Busse fahren. Das heißt, die Dörfer waren von der Außenwelt abgeschnitten. Im Frühling konnte man nicht auf den Markt fahren, um Gemüsesetzlinge zu kaufen. Einmal die Woche kam ein Fahrzeug, das zu überhöhten Preisen Lebensmittel verkaufte. Da man keine Zeitung hat und die wenigsten Menschen die Nachrichten anschauen, verbreiteten sich negative Gerüchte in Windeseile.

„…Vater…Vater…hör auf Mutter zu schlagen…“ Laut schallen die verzweifelten Schreie der Kinder aus Familie Welitschai durch die ganze Nachbarschaft. Brutal schlägt der betrunkene Mann auf seine Frau ein, die hilflos auf dem Boden vor ihrer Hütte liegt. Wenige Stunden später sitzen die Kinder von Familie Welitschai in Tränen aufgelöst in unserem „Zufluchtsort“ in Boschedarjewka. Es ist für unsere Mitarbeiterinnen unerträglich, die schreckliche Situation der Familie zu kennen, ohne aktiv eingreifen zu können.

Langsam liest Samir einige Worte aus einem Lesebuch für die 1. Klasse. In seiner Roma Familie kann nur seine älteste Schwester Schreiben und Lesen. Nun ist es sein größter Wunsch, dass er es auch lernt. Jeden Tag kommt er in unsere „Villa Sonnenschein“, wo sich Aliona Raschkowa, die unsere „Villa Regenbogen“ leitet, schon auf den Unterricht vorbereitet hat. Auf dem Tisch liegen Karten mit ukrainischen Buchstaben. Von außen sieht es wie ein lustiges Spiel aus, doch für Samir ist es harte Arbeit.

„Tante Wera, stimmt es, dass wir in diesem Jahr kein Sommerlager haben?“ Mit traurigen Augen schauen die Kinder Wera Kolomoetz an, die in unserem „Zufluchtsort“ in Odarjewka arbeitet. Doch dann überraschen wir sie mit einer Nachricht, die wieder Hoffnung in ihnen wachen lässt. „Vielleicht könnt ihr euch noch daran erinnern, wie wir im vergangenen Winter die Zimmer in unserem Nebengebäude ausgebaut haben. Nun ist es endlich so weit. Am nächsten Wochenende haben wir unsere erste Wochenendfreizeit.“

Leichter Wind streicht über den Garten hinter unserem „Tageskinderheim am See“. Heute haben wir zum ersten Mal, seit die Corona-Krise begonnen hat, unseren „Stillen Hafen“, eine Gruppe, in der wir über unsere persönlichen Probleme sprechen können. „Ich werde immer in der Schule ausgelacht, weil wir arm sind. Dann schäme ich mich.“ An diesem Nachmittag sprechen wir darüber, wie man in schweren Situationen stark sein kann. Soja Tschechowskaja, die unser „Tageskinderheim am See“ leitet...

„…langsam…vorsichtig…pass auf…“ Ein wenig angespannt gibt eine Frau ihren Kindern Befehle, einen Kühlschrank von einem Fahrzeug abzuladen. Hier draußen, in ihrem kleinen „Vergessenen Dorf“ gibt es keinen Dorfladen. Einmal die Woche kommt ein Lebensmittelfahrzeug, versorgt die Menschen in ihrem Dorf. Doch wo soll Lilia Timoschenko die Lebensmittel eine Woche lang aufbewahren? Draußen sind es oft über 40 Grad. Lilia hat acht Kinder, die sie alle ernähren muss. Eine schwere Aufgabe.

„Ich habe Angst vor dem Haarschneidegerät! Tut das nicht weh?“ Der 4jährige Stas Welitschai schaut Lena Latoschenko mit ängstlichen Augen an, die in unserem „Zufluchtsort“ in Boschedarjewka arbeitet. „Nimm das Gerät einfach einmal in die Hand. Du musst keine Angst haben.“ Während der Corona-Krise sind alle Frisörgeschäfte in Boschedarjewka geschlossen. Außerdem ist ein Frisörbesuch für die armen Familien, aus denen unsere Gäste kommen, zu teuer.

„Wieviel ist drei Mal sieben?“ Heute hat Aliona Salimtschuk die Kinder in ihre Klasse im „Tageskinderheim am See“ eingeladen, die dringend Nachhilfeunterricht benötigen. Es ist nicht leicht zu akzeptieren, dass sie vieles vergessenen haben, was wir in Monaten mühsam erarbeitet haben. Hinzu kommt, dass wir während der Corona-Krise einen Sicherheitsabstand halten, dass wir Schutzmasken tragen müssen. All das erschwert den Unterricht natürlich.

Es ist immer ein gutes Gefühl, wenn wir Früchte unserer Arbeit sehen. Viele Jahre hat Amina unsere „Villa Sonnenschein“ besucht. Nachdem ihre Eltern starben, war das Mädchen Waise. Ihre Hauptaufgabe war in dieser Zeit, sich um ihre beiden jüngeren Brüder zu kümmern. Als sie sich Gedanken um ihre berufliche Zukunft machte, fing sie an unsere „Lehrwerkstatt“ zu besuchen. Wir halfen ihr in einer Nachbarstadt einen Ausbildungsplatz zur Schneiderin zu finden. Hier ist sie durch all das, was sie bei uns gelernt hat, mit Abstand die beste Schülerin.

In diesen Tagen wird auch in der Ukraine die Quarantäne immer mehr gelockert. Doch alle Menschen wissen, dass nach der Corona-Krise eine weitere Krise auf die Ukraine wartet, eine Wirtschaftskrise. Über 50% der Menschen in der Ukraine haben bereits ihre Arbeitsstelle verloren. Zwar ist gerade erst einmal der Sommer angefangen, aber wir denken jetzt schon an den kommenden Winter. Deshalb haben wir im Frühling große Kartoffeläcker und Gemüsegärten angelegt, die jetzt gepflegt werden müssen.

Hallo Kinder, wow! Ihr seid spitze! Im Mai haben wir dazu aufgerufen, uns bunte selbstgemalte Bilder zu schicken. Wir haben uns riesig über Post von Euch gefreut. Die Bilder haben wir eingescannt und per E-Mail in die Ukraine weitergeleitet. Lena Uchnal, die Leiterin unserer Kinderarbeit dort, hat eure Kunstwerke ausgedruckt und zum Verteilen weitergegeben. Die Kinder in der Ukraine, die während der Quarantäne ihr Grundstück mehrere Wochen gar nicht verlassen durften, waren total erstaunt, Post aus Deutschland zu bekommen. Sie fanden unsere Aktion richtig toll!

„Mutter, ich kann es kaum glauben, wie schnell unsere Enten gewachsen sind!“ Die Begeisterung der Kinder von Olga Klimenko hatte vor einigen Wochen keine Grenzen. Wir hatten ihnen 50 kleine Enten geschenkt, die lustig durch ihren Garten liefen. „Mutter, was essen Enten? Wo werden die Enten in der Nacht schlafen?“ Olgas Kinder hatten unzählige Fragen. Jedes Kind wollte auf die Enten aufpassen. In der Zwischenzeit sind die kleinen Enten gewachsen.

Hinter unseren Kindern liegen anstrengende Monate. Die Quarantäne während der Corona-Krise hat natürlich niemandem gefallen. Dazu haben viele Menschen Zukunftsängste. Das erzeugte in Familien manche Spannungen und Aggressionen. Viele Eltern versuchten all das, was um sie herum passiert, im Alkohol zu vergessen. Da gab es sexuelle Übergriffe und Gewalt. Oft musste das Jugendamt einschreiten. In dieser Zeit sind unsere „Zufluchtsorte“ ganz besondere Ruheplätze geworden...